Ungewöhnlicher Scheunenfund
- 23. Januar 2025
- Jan Skibinski
Die Bilder des letzten Wartburgs, der am 10. April 1991 im Automobilwerk Eisenach vom Band lief, sind vermutlich vor allem der damals anwesenden Belegschaft in Erinnerung geblieben. An besagtem Tag wurde nicht nur die Produktion eines der bekanntesten Fahrzeuge der DDR beendet, sondern auch ein Stück deutsche Automobilgeschichte beerdigt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Volkseigenen Betriebs hatten diesen Tag bewusst als Trauerakt gestaltet. Den letzten Wartburg, ein Modell 1.3 in rotem Lack, schmückten sie symbolisch mit roten und weißen Schleifen, um die Trauer über das Ende der Fertigung und die unsichere Zukunft des Werks auszudrücken.
Einige der roten Schleifen des letzten Wartburg sind seit Jahren fester Bestandteil der Dauerausstellung in der Stiftung Automobile Welt Eisenach (AWE) und Kopien dieser Schleifen können sogar im Haus der Geschichte in Bonn besichtigt werden. Die weißen Schleifen hingegen, ein Unikat, galten über Jahrzehnte als verschollen – bis zu einem überraschenden Fund im Jahr 2024.
Im November 2024 nahm Nico Schmidt aus dem Berliner Raum Kontakt zu Enrico Martin auf, der als langjähriger Wartburg-Experte und engagierter Unterstützer der Stiftung AWE bekannt ist. Nico Schmidt, selbst Wartburg-Eigner, benötigte Ersatzteile für sein Fahrzeug und wandte sich deshalb an Martin. So kam es, dass man sich wenige Tage später in Eisenach traf. Doch Anlass war nun nicht mehr allein die Schmidt’sche Ersatzteilsituation: In ihrem Gepäck befand sich ein historisches Artefakt, das bei einem kürzlich erfolgten Garagenkauf zufällig in ihre Hände gefallen war. Die beiden hatten die verschollene weiße Trauerschleife des letzten Wartburgs ausgegraben und beschlossen, sie der Stiftung AWE in Eisenach zu überlassen.
Die Fertigung des „sozialistischen“ Wartburg (Hans-Heinrich von Fersen schreibt, dass bereits 1898 Fahrzeuge mit dem Namen Wartburg aus Eisenach kamen) begann im Jahr 1956 im Automobilwerk Eisenach. Das Auto, das an besagtem Apriltag als letztes vom Band lief, war übrigens eines der letzten Ausbaustufe mit dem ursprünglich von Volkswagen stammenden Viertaktmotor. Nach der Einstellung der Wartburg-Produktion wurde das Automobilwerk Eisenach grundlegend umstrukturiert. Bereits 1990 hatte Opel, damals unter GM-Ägide, das Werk übernommen. Es wurde modernisiert und dient seither als Produktionsstätte für Opel-Modelle. Die Umstellung bedeutete für viele Beschäftigte einen schweren Einschnitt, sicherte aber dennoch den Standort und die Automobilfertigung in Eisenach – Angesichts der derzeitigen Umbrüche ist die Zukunft dort wohl aber mal wieder ungewiss. Die Zweitaktfahne weht dennoch immer noch stolz über der Wartburg: Seit einigen Jahren begeistern sich nachfolgende Generationen für das sozialistische Erbe und retten mehr und mehr der einst als Schüttgut gesehenen Autos.