Dachgeschosse
- 24. Mai 2023
- Peter Steinfurth , Bilder: Andreas Beyer/Fiat-Archiv
Das Bauwerk ist 507 Meter lang. Über fünf Stockwerke windet sich das Fließband hinauf aufs Dach, wo die fertigen Fiat 501 auf einer 1,4 Kilometer langen Einfahrbahn auf Herz und Nieren geprüft werden, ehe sie über eine spektakulläre Rampenanlage nach draußen auf die Straße rollen. Kein Zweifel: Das Fiat-Werk im Turiner Stadtteil Lingotto, das vor 100 Jahren, am 22. Mai 1923, die Arbeit aufnahm, war damals das modernste Automobilwerk Europas. Um seinen ambitionierten Enwurf realisieren zu können, setzte Architekt Giacomo Mattè Trucco auf ein damals revolutionäres Baumaterial: Die Fiat-Fabrik war eines der ersten Gebäude dieser Größe, die aus stahlarmiertem Beton errichtet wurden.
Die Bauarbeiten begannen bereits 1916, aber es war nicht allein der Erste Weltkrieg, der die Fertigstellung verzögerte. Im August 1917 kam es im alten Fiat-Werk am Corso Dante Alighieri zu einem Aufstand, bei dem 24 Arbeiter getötet wurden. Denn während die Firma expandierte, litt ganz Italien unter einer Hungersnot. Fiat-Boss Giovanni Agnelli forderte sogar militärische Unterstützung an, um die Unruhen niederzuschlagen, doch Ministerpräsident Giovanni Giolitti, ein Freund Agnellis, verweigerte den Einsatz der Truppe.
Die Lage entspannte sich nur langsam, und so erklärt sich die Bauzeit von rund sieben Jahren. Als die Produktion in Lingotto anlief, produzierte Citroëen in Paris bereits seit drei Jahren Automobile am laufenden Band. Beide Hersteller ließen sich von den rationalisierten Arbeitsabläufen bei Ford in den USA inspirieren. Henry Ford hatte sich das Fließband seinerseits auf den Schlachthöfen und Konservenfabriken Chicagos abgeschaut.
In den besten Jahren arbeiteten in Lingotto 30.000 Menschen auf 153.000 Quadratmetern Fabrikfläche. Allerdings offenbarte sich auch bald eine Schwachstelle der Konstruktion: Bei immer komplexeren Autos, die aus immer mehr Teile und Arbeitsschritten bestanden, ließe sich das Fließband nicht verlängern. Fiat stampfte deshalb ab 1937 ein weiteres Werk im Turiner Stadtteil Mirafiori aus dem Boden. Das letzte Auto, das in Lingotto gebaut wurde, war 1979 eigentlich ein Lancia: allerdings basierte der Delta auf dem Fiat Ritmo.
Erst 1982 wurde das Werk endgültig geschlossen. Schon wenig später engagierte sich eine Bürgerinitiative für den Erhalt des Turiner Wahzeichens. Heute gibt es dort 14 Restaurants, Büros, zwei Hotels, ein Einkaufszentrum und das Kunstmuseum Scrigno mit der Gemäldesammlung von Gianni und Marella Agnelli. In Italien bleibt eben am Ende doch alles in der Familie…