Michael Plag: Der Sterne-Meister
- 22. August 2018
- Red. OLDTIMER MARKT
Ein toller Job? Nein. Ein Traumjob!
Wie sieht’s denn an Ihrem Arbeitsplatz aus? Haben Sie sich’s auch ein wenig schön gemacht? Auf dem Schreibtisch ein schickes Flügeltürer-Modell, an der Wand ein Bild vom W154-Monoposto, daneben eine eingerahmte 190SL-Schnittzeichnung, und als Briefbeschwerer nutzen Sie einen hochglanzpolierten Ponton-Kolben. Na prima, so lässt sich’s doch vortrefflich aushalten! Bei Michael Plag sieht’s ganz ähnlich aus: Hier ein paar Flügeltürer, dort ein Silberpfeil, weiter hinten im Raum ein Grand-Prix-Bolide von 1906, dazwischen wunderschöne Renntriebwerke aus den Kindertagen des Motorsports – alles so ähnlich wie bei Ihnen. Allerdings mit einem winzig kleinen Unterschied: Was hier steht, sind keine Modelle! Und die Zeichnungen, die Schreibtische und Werkbänke schmücken, sind keine eingerahmten Drucke, sondern Original-Blaupausen wie sie einst aus dem Konstruktionsbüro kamen. Alles echt, alles eins zu eins. Und das gehört auch so, denn Michael Plag ist an seinem Arbeitsplatz nicht dafür verantwortlich, dass im Supermarkt ausreichend Vierkorn-Erdbeer-Joghurt im Regal steht, sondern dass die Oldtimer-Flotte „beim Daimler“ auf Zack ist. Jederzeit und ohne Einschränkungen. Der 57-Jährige arbeitet im Mercedes-Benz Classic Center in Fellbach bei Stuttgart. Klassik-Botschafter der Marke – heute heißt das Brand Communications. Ein toller Job? Nein. Ein Traumjob!
Und zwar einer, der um Haaresbreite an Michael Plag vorbeigegangen wäre. Denn eigentlich war ihm „der Daimler“ viel zu uncool, zu konservativ, damals, Ende der Siebziger. Und weil es auf jeden Fall eine Ausbildung zum Kfz-sein musste, startete der junge Autonarr kurzerhand bei der Marke mit dem weißblauen Propeller durch. Bei einem BMW-Händler in Esslingen.
Aber mal ehrlich: Darf man das? Als waschechter Schwabe? Mit den Bayern fremdgehen? Natürlich nicht. Das ist Hochverrat. Oder sogar noch schlimmer. Da muss man sich ja schämen. Das befand jedenfalls Plags Familie und legte dem Bub nahe, nach dem Ende seiner Lehrzeit mal beim guten Stern anzuklopfen. Was Sohnemann auch tat. Und siehe da – die Stuttgarter hatten auf Anhieb den „passenden“ Job für den frisch gebackenen Mechaniker parat: am Fließband. Irgendwelche Teile irgendwo reinschrauben, und wenn’s drin war, kam gleich das nächste hinterher. Tausend Mal am Tag. Nix für mich, dafür habe ich keine Ausbildung gemacht, entschied Michael Plag und gab dem Daimler einen Korb. Peng! „Wenige Tage später klingelte bei meiner Mutter das Telefon“, erinnert sich der Schwabe. „Ein Herr aus der Personalabteilung wollte gern den jungen Mann kennenlernen, der dem Daimler eine Absage erteilt hat. Das hatten die offenbar noch nicht so oft…“
Im zweiten Anlauf "zum Daimler"
Kurz darauf trat Michael Plag zu seinem zweiten Vorstellungsgespräch an – jetzt bei Max-Gerrit von Pein, dem damaligen Chef des Mercedes-Benz-Museums. Und siehe da, diesmal traf der neu definierte Aufgabenbereich mitten ins Schwarze. „Ob ich schon mal was von Silberpfeilen gehört hätte, wollte von Pein wissen. Und ob ich mir vorstellen könne, an klassischen Fahrzeugen zu arbeiten“, schmunzelt Plag – und noch immer strahlt eine tiefe, ehrliche Begeisterung aus seinen blaugrauen Augen. Wie lang der Auto-Liebhaber für seine Entscheidung gebraucht hat? Fragen Sie doch mal einen hochmotivierten Nachwuchskicker, ob er gern in der Nationalmannschaft spielen möchte…
An seinen ersten Arbeitstag in der Museumswerkstatt erinnert er sich, als sei es erst vor einem Monat gewesen: „Auf mich warteten bereits vier Holzspeichenfelgen mit Wulstreifen in erbärmlichem Zustand. Baujahr 1916. Da stand eine tiefgreifende Schönheitsoperation auf dem Programm – eine echte Herausforderung. Besonders, wenn man sich zuvor nur mit Blech- und Alufelgen beschäftigt hat.“ Michael Plag hatte seinen Traumjob gefunden – und der war das krasse Gegenteil von stupider Fließbandarbeit oder öder Teiletauscherei. „Wer hier keine Leidenschaft, keine Begabung und keine Geduld mitbringt, ist falsch. Und wenn dir ein aufwendiges Projekt anvertraut wird, lässt dich das Thema auch am Wochenende nicht los“, verrät der Mercedes-Mann, und seine Vita beweist, dass er sich weder am Wochenende, noch nach Feierabend von seinem Beruf, seiner Berufung lösen wollte. Dann nämlich stand zunächst allabendlich die Meisterschule auf dem Programm – und anschließend die Ausbildung zum Betriebswirt des Handwerks. Mehr als ein Fulltimejob.
Die Passion für den 300 SL
1993 war Plag schließlich am Ziel seines ehrgeizigen Lernmarathons angekommen. Und aus der Museumswerkstatt ist inzwischen das Classic Center geworden – dessen Leitung der Oldtimer-Enthusiast nun übernehmen durfte. Und hier gab und gibt es viel zu leiten, denn die Genesungsstätte für Museumsfahrzeuge hat ihr Aufgabengebiet deutlich erweitert: Das 20-köpfige Spezialisten-Team nimmt zusätzlich auch Aufträge von Privatkunden entgegen. Von der Pagode („der W113 ist für uns ein hochmodernes Auto“) bis zum Adenauer-Cabriolet verwandelt die Crew auf Wunsch Wracks in Zustand-eins-plus-Oldies – vorausgesetzt, der Eigner bringt genug Zeit (und Geld) mit. Wer zum Beispiel einen todkranken Flügeltürer zur Kernsanierung einreicht, sollte sich rechtzeitig für die nächsten anderthalb Jahre adäquaten Ersatz beschaffen. Dafür bekommt der geduldige Kunde anschließend einen Top-Mercedes im Concours-Zustand überreicht. Ohne Patina, aber mit Neuwagengeruch. Und an dem hat mit Sicherheit auch Meister Plag Hand angelegt, denn dieser hat sich zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht nur auf die Vorkriegsboliden des Hauses spezialisiert, sondern auch auf die geflügelte Sportwagenikone. Genau die hat es dem schraubenden Automobilhistoriker am meisten angetan. Wegen ihres aufregenden Designs? Oder der übermächtigen Power? Weder noch: „Der 300 SL wurde Anfang der Fünfziger entwickelt. Quasi zwischen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder. Plötzlich stand da dieses Überauto neben NSU Quickly und Goggo. Wie von einem anderen Stern. Wie ein Ufo. Vor der ungeheuren Ingenieursleistung in diesen turbulenten Jahren habe ich großen Respekt.“
Großen Respekt hat der Schwabe auch vor den „ganz harten Fällen“ des facettenreichen Daimler-Portfolios: Benz-Patent-Motorwagen, Rennfahrzeuge aus der Pionierzeit und diverse skurrile Sonderaufbauten bieten jede Menge Potenzial, um selbst erfahrene Restauratoren an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Wie zum Beweis hält uns Michael Plag eine winzige Schraube zum Justieren des Ventilspiels unter die Nase. „Aus einem 500K-Motor – sieht recht unspektakulär aus, steckt aber ’ne Menge Know-how drin. Wenn wir alte Triebwerke überholen, versuchen wir stets, die Haltbarkeit beanspruchter Bauteile zu optimieren. Dank besserer Werkstoffe und moderner Materialprüfverfahren lässt sich die Zuverlässigkeit in vielen Fällen erhöhen – und der Verschleiß minimieren.“ Doch bevor ein grundüberholtes Aggregat wie der Fünfliter-ohv-Achtzylinder auf Auto und Besitzer losgelassen wird, steht ein ausgiebiger Prüfstandslauf an. Erst wenn das Triebwerk in einem zehnstündigen Testverfahren seine einwandfreie Funktion unter Beweis gestellt hat, findet es seinen Weg ins Auto. In diesem Fall in das Chassis des CabrioletB aus dem Jahr 1936. Für den offenen 500K ist es bereits der zweite Kuraufenthalt im Stuttgarter Sanatorium. „In den Sechzigern ist er zum ersten Mal restauriert worden“, erklärt der Mercedes-Mann. „So, wie man sich’s damals vorgestellt hat. Jetzt machen wir’s gründlicher, darum dauert es auch schon knapp zehn Jahre – ein echter Sonderfall…“
Ständig im Austausch
Woher stammt das Know-how, all das komplexe Fachwissen, das Voraussetzung für derlei Arbeiten ist? „Ich habe schon vor 30 Jahren jede Gelegenheit genutzt, mit Kollegen zu sprechen, die kurz vor ihrer Pensionierung standen und noch an den alten Fahrzeugen geschraubt haben“, erinnert sich Michael Plag. „Die praktischen Erfahrungen und die Routine dieser Mitarbeiter sind für uns oftmals mehr wert als ein Stapel technischer Literatur.“ Darüber hinaus pflegt Plag weltweit Kontakte zu anderen Restaurierern, tauscht sich regelmäßig mit einem Mercedes-Spezialisten in Neuseeland aus – und nutzt selbstverständlich oft das extrem umfangreiche historische Konzern-Archiv.
Richtig haarig wird’s jedoch erst, wenn gar nichts überliefert wurde, weil die rollenden Veteranen schlicht zu alt sind. Oder zu rar. Wie der weiße Grand-Prix-Rennwagen aus dem Jahr 1908. „Eine traurige Ruine. Da haben wir erst durch aufwendige Archiv-Recherche herausgefunden, was das überhaupt ist“, erinnert sich der Technik-Freak. „Der Motor war verschollen, etliche Teile fehlten, vieles musste nach historischen Fotos nachempfunden werden – meine größte Herausforderung!“ Lohn der (ebenfalls zehnjährigen) Mühen: Das Auto lebt, ist zurück auf der Straße! Und befindet sich dennoch in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess. Kommen, meist durch Auffinden zeitgenössischer Fotos, neue Erkenntnisse über den Urzustand ans Tageslicht, wird nachgebessert. So original wie möglich, lautet die Maxime.
Von Youngtimern und Elchen
Und plötzlich rutschen wir auf dem Zeitstrahl mitten ins Hier und Heute. Gefühlt jedenfalls: Wie ein Fremdkörper schimmert eine mondsilberne A-Klasse zwischen zwei Pagoden und einem Strichacht hervor. Ist da jemand falsch abgebogen, oder parkt hier das Service-Auto eines Mitarbeiters, der gerade Ersatzteile abgeholt hat? „Keineswegs“, grinst Michael Plag. „Die erste Serie hat inzwischen auch schon zwanzig Jahre auf dem Buckel – da müssen wir rechtzeitig gute Exemplare in die Asservatenkammer stellen.“ Dort parkt zwar schon ein frühes Modell, aber das ist unglücklicherweise ein wenig aus der Form geraten. Damals, 1997, in Schweden. Beim Elch-Test…
Wir schlendern weiter durch Daimlers automobile Heilanstalt – und bleiben vor einem riesigen Monstrum aus dem Jahr 1910 stehen. „Originaler geht’s nicht“, erklärt Michael Plag und betrachtet ehrfurchtsvoll den schwarzen Typ 10/40PS. „Der Privatwagen der Familie Adolf Daimler. Unrestauriert. Das gute Stück hat eine lange Odyssee hinter sich, diente seit den dreißiger Jahren als Ausstellungsstück – und fand seinen Weg nach der Wende schließlich aus Dresden zu uns zurück.“ Jetzt soll er wieder mobil gemacht werden. Äußerst behutsam, versteht sich. Und so, wie er ist: mit sprödem Leinöllack, mattem Zierrat, mit seinen charmanten Acetylen-Scheinwerfern und der fünf Millimeter dicken Verglasung. Und genau die stellte das Team jetzt vor eine knifflige Aufgabe: „Eine Scheibe fehlt. Bis wir endlich eine Glasbläserei gefunden hatten, die uns in der gleichen Qualität Ersatz anfertigen kann, hat es beinahe eine Ewigkeit gedauert. Ach ja, einen passenden Eisemann-Zündmagneten suchen wir auch noch händeringend – eine durchaus sportliche Herausforderung…“
Ständig unterwegs im Dienste des Sterns
Sportlich wird’s auch meistens, wenn Michael Plag Termine außer Haus wahrnimmt. Vom fast schon familiären Kompressortreffen bis zur legendären Mille Miglia sorgen etliche Veranstaltungen dafür, dass am Wochenende keine Langeweile aufkommt. „Wenn die Mille an den Start geht, sind 36 Daimler-Mannen rund um die Uhr im Einsatz“, verrät Plag. „Was vor knapp 30 Jahren mit zwei Service-Leuten überschaubar anfing, rangiert in Sachen Personalaufwand mittlerweile auf DTM-Niveau.“
Möchte man denn eigentlich bei dieser Überfrachtung an historischem Blech am Wochenende, nach Feierabend, in seiner Freizeit überhaupt noch etwas mit Oldtimern zu tun haben? Michael Plag will! Und wieder funkelt Begeisterung in seinen Augen wie bei einem Kind, das gerade sein erstes Matchbox-Auto auspackt. „In meiner Garage steht ein elfenbeinfarbener Strichacht. Ein 240D, zweite Serie – mit jungfräulichen 48.000 Kilometern auf dem Zähler. Der riecht noch wie ein Neuwagen, fährt sich auch so und bietet Entspannung pur, ein kommodes Rundum-sorglos-Paket.“ Und auch wenn’s mal ein wenig forscher vorwärts gehen soll, hat Meister Plag den passenden Pfeil im Köcher. Und das ist ausnahmsweise mal kein Silberpfeil, sondern ein urbritischer Radaubruder: ein Austin Healey 3000. „Ohne Frage, ein herrliches Auto mit großem Spaßfaktor – aber meistens fällt meine Wahl auf den Benz. Inzwischen legt man ja doch schon etwas mehr Wert auf die Bequemlichkeit. Und außerdem muss man nicht ständig dran herumschrauben. Ist ja schließlich ein Mercedes!“
Text: Martin Brüggemann, Fotos: Stephan Lindloff