Der gescheiterte Visionär
- 13. November 2024
- Annette Johann
Da die Familie 1935 vor den Nationalsozialisten in die Türkei geflohen war, wuchs Edzard Reuter in Ankara auf, studierte nach dem Krieg in Berlin und Göttingen Mathematik, Physik und Jura, bevor er 1965 zu Daimler Benz kam und 1976 dort Mitglied des Vorstands wurde. Von 1987 bis 1995 hatte er als Vorstandvorsitzender die Leitung des Konzerns inne. Zeiten in denen sich die Welt veränderte, ein wiedervereinigtes Deutschland entstand und der Osten sich öffnete.
Der Sohn des ersten Berliner Nachkriegsbürgermeisters Ernst Reuter dachte groß und hatte Visionen weit jenseits eines Autobauers. Er verhalf Daimler-Benz zur eigenen Luft- und Raumfahrttochter DASA. Auch AEG, Dornier und MTU gehörten dazu. Das brachte zwar enorme Popularität, doch am Ende scheiterte die Vision. Daimler kehrte zurück zum Kerngeschäft. Was blieb, war ein Milliardenverlust – und Reuter wurde den Ruf des größten Kapitalvernichters aller Zeiten nie mehr los. Er selbst hat seinen Kurs immer verteidigt. «Wir haben im Einzelnen bei unserem Versuch, einen Technologiekonzern aufzubauen, gewaltige Fehler gemacht – gar kein Zweifel», sagte er einmal der Deutschen Presse-Agentur. «Aber der grundsätzliche Weg, ist nach meiner festen Überzeugung, absolut richtig gewesen.» Man habe schon damals überlegt, wie die Zukunft der Autoindustrie aussehen könne und wie das Unternehmen sich darauf einstellen könne. Reuter habe insgesamt die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen schon früh im Blick gehabt, teilte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) anlässlich seines Todes mit. Er habe seine Ideen trotz Widerständen ehrgeizig vorangetrieben.
Edzard Reuter mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl
Der Sohn des berühmten Berliner Nachkriegs-Oberbürgermeister Ernst Reuter, SPD, der die zerstörte Stadt während Teilung und Blockade 1948 lenkte, war selbst über Jahrzehnte SPD-Mitglied und trat nicht nur als Streiter für mehr Anstand und Moral in der Wirtschaft auf, sondern auch als sozial- und gesellschaftspolitischer Mahner. Von seinem Wohnort Stuttgart führte Reuter die nach ihm und seiner Frau benannte Helga- und Edzart Reuter-Stiftung, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen einsetzt. Am 27. Oktober starb Edzard Reuter im Alter von 96 Jahren in Stuttgart.